Dieses Jahr fand der 54. Historikertag vom 19.-22. September unter dem Motto „Fragile Fakten“ statt. Die Universität Leipzig war dieses Jahr Gastgeberin, womit Leipzig nach 1894 und 1994 zum dritten Mal Veranstaltungsort für den größten geisteswissenschaftlichen Fachkongress in Europa (rund 2.500 Teilnehmer:innen aus dem In- und Ausland) wurde. Grundsätzlicher Zweck der Veranstaltung ist es unter anderem, der Öffentlichkeit neue Ergebnisse aus der historischen Forschung vorzustellen und einen Austausch zu drängenden Fragen rund um Geschichte und Gesellschaft zu ermöglichen. Wie der Veranstalter, der Verband der Historikerinnen und Historiker (VHD), in seinen Hintergrundinformationen beschreibt, „geht es [dabei] oft um eine neue Positionierung der eignen Disziplin: Wie verhält sich die Geschichtswissenschaft zu aktuellen politischen und sozialen Debatten?“ Ausgehend von dieser Voraussetzung leuchtet es ein, dass die mittlerweile hochaktuelle und verschiedenste Gesellschaftsbereiche durchdringende Thematik der sexualisierten Gewalt mit einer eigenen Sektion „Missbrauch als Thema der Zeitgeschichte – Perspektiven und Herausforderungen“ vertreten war.
Über diese Fachsektion hinaus, war „Missbrauch“ thematisch gleich mehrfach während der Historikertage präsent. Ganz konkret stellt die Geschichtswissenschaft an Universitäten selbst einen solchen Gesellschaftsbereich dar, der von Machtmissbrauch in Form von sexualisierten Übergriffen, verbaler Belästigung, aber auch Mobbing oder Diskriminierung betroffen ist. Innerhalb einer Sonderveranstaltung „#metoohistory: Diskussionsveranstaltung zu Machtmissbrauch im deutschen Wissenschaftssystem“, die hybrid übertragen wurde, wurde ein erster Austausch zwischen Studierenden, Mittelbau, Professor:innen sowie Vertreter:innen der Initiative #metoohistory und des VHD initiiert, womit unter anderem auch unser Projektleiter Lutz Raphael in seiner Rolle als Vorsitzender des Verbandes aktiv mitdiskutierte. (Vergangenheitsformen. Der Redaktionspodcast von H-Soz-Kult: Staffel 1 – Episode 8: Machtmissbrauch in der Wissenschaft & metoohistory) Das Interesse an der Veranstaltung war so groß, dass spontan ein größerer Raum gefunden werden musste. Die Vertreter:innen der Initiative #metoohistory schätzten die Teilnahme an auf ca. 300 Personen. Spätestens dieser Andrang auf die Sonderveranstaltung verdeutlicht die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Themas, auch außerhalb des Bereiches der katholischen Kirche. Zum Abschluss der Historikertage wurde in der Mitgliederversammlung des Verbandes der Historikerinnen und Historiker in diesem Zusammenhang eine Resolution „Gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft“ verabschiedet.
Das Motto „Fragile Fakten“ forderte die Geschichtswissenschaft in gewisser Weise dazu auf, ihre Grundlagen – nämlich ihre Quellen und Wissensbestände – durch Reflexion und Diskurs kritisch zu überprüfen. Zusätzlich zum Argument der gesellschaftlichen Aktualität trifft auch das Motto der Großveranstaltung ein zentrales Problem der historischen Aufarbeitung von sexualisierten Missbrauchskontexten. In der erwähnten spezifischen Fachsektion wurde bereits zu Beginn herausgestellt, dass es die Forschung in diesem Bereich mit besonders fragilen Fakten zu tun hat. „[V]erklausuliert sprechenden kirchlichen Aktenfragmenten [stehen] traumatisch belastete[] Erinnerungen noch lebender Betroffener“ gegenüber. Diese Fragilität der Quellenüberlieferung resultiert beispielsweise auf der Seite der kirchlichen Institutionen aus überwiegend mündlichen Absprachen im Umgang mit Missbrauchsfällen, also dem Verzicht diese Absprachen schriftlich zu fixieren (siehe hierzu auch die Ergebnisse unseres Zwischenberichts zur Amtszeit Bernhard Steins). Die „traumatisch belasteten Erinnerungen“ von Betroffenen bedeuten auf der anderen Seite, dass sie aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse häufig unter einer dissoziativen Amnesie leiden, was bedeutet, dass sie ihre traumatischen Erinnerungen als Überlebensstrategie aus dem Gedächtnis teilweise oder vollständig abspalten. Mit dieser besonders „fragilen Faktizität“ beschäftigte sich der Historiker Klaus Große Kracht in seinem Vortrag „Historische Aufarbeitung zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen und öffentlicher Erwartung. Die fragile Faktizität des sexuellen Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche“ in der übergeordneten Sektion „Fakten zwischen Historischer Forschung und Vergangenheitsaufarbeitung; ,Commissioned history‘ und Wissensproduktion für die und mit der Öffentlichkeit.“ Hierauf verwies Klaus Große Kracht bereits teilweise im Rahmen einer anderen Tagung hin („Wege. Möglichkeiten. Grenzen. Forschung zu sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext und Fragen der Partizipation von Betroffenen“), die unsere Projektmitarbeiterin Alisa Alić in Vertretung für unser historisches Projekt im März besuchte. Anhand der so zahlreichen Behandlung des Themenbereichs sexualisierte Gewalt bzw. sexueller Missbrauch innerhalb des 54. Historikertages wird deutlich, dass er fester Bestandteil der aktuellen Zeitgeschichtsforschung geworden ist.
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