„Dynamiken der Macht“ ist das diesjährige programmleitende Motto des 55. Historikertages. Dabei ist der Themenschwerpunkt „Macht“ ohne die ergänzende Frage nach den Bedingungen von „Machtmissbrauch“, der mit unter richtungsweisend für entstehende Dynamiken ist, fast nicht mehr zu denken. Die Relevanz, diese eng zusammenhängende Begriffsdichotomie vermehrt zu untersuchen, resultiert nicht zuletzt in besonderem Maße aus Forderungen von Bewegungen, die Machtmissbrauch überwiegend auch als sexualisierte Gewalt erfahren haben. Das bedeutet, dass bereits das Motto bzw. der Titel des 55. Historikertages implizit auf den Bedeutungszuwachs des Themas sexualisierte Gewalt innerhalb der (Zeit-)Geschichtsforschung verweist. Schon beim letzten Historikertag in Leipzig 2023 war das Thema Missbrauch bzw. sexualisierte Gewalt während des größten geisteswissenschaftlichen Fachkongresses in Europa mit einer eigenen Sektion, aber auch in Bezug auf (Macht-)Missbrauch innerhalb des eigenen Faches, Bestandteil des Ablaufplans. Die feste Verankerung als zentraler zeithistorischer Themenbereich von hoher gesellschaftlicher Relevanz bestätigte sich auch in diesem Jahr durch die erneute Aufnahme im Programm mit einer eigenen Fachsektion. 

Hiermit war auch das historische Projekt zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle von Schutzbefohlenen im Verantwortungsbereich des Bistums Trier mit Lena Haase in gemeinsamer Sektionsleitung mit Keywan Klaus Münster aus Bonn am Kongress beteiligt. Im Rahmen des diesjährigen Mottos setzten die beiden einen Schwerpunkt auf die Macht der Öffentlichkeit(en) im Umgang mit sexuellem Missbrauch bzw. sexualisierter Gewalt. Das Panel knüpfte thematisch an die Beobachtung an, dass eine Trias aus institutioneller, ziviler wie medialer Öffentlichkeit „den Umgang mit sexualisierter Gewalt entschieden beeinflusste[] und beeinfluss[t].“ Die „Dynamiken und Wechselbeziehungen zwischen institutionellen Entscheidungsträgern und den Gefahren (und Chancen) öffentlicher Resonanzräume“ wurden anhand dreier Fallstudien aufgezeigt und dem Plenum als Grundlage zur Diskussion gestellt.

In ihrer thematischen Einführung legte Lena Haase den Schwerpunkt auf die Verschränkung verschiedener Ebenen von Öffentlichkeit, die sich im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt als zentral herausstellen und sprach von „multiplen Öffentlichkeiten“, innerhalb derer sich abhängig von unterschiedlichen und zum Teil zukünftig noch zu untersuchenden Faktoren die Diskurshoheit als dynamisch zeigt. Lag sie beispielsweise im Kontext der Katholischen Kirche seit 1945 bis in die 2010er Jahre überwiegend bei den Verantwortlichen bzw. der Institution, verschob sie sich seither gravierend auf die Ebene der medialen Öffentlichkeit. 

Unter dem Titel „Standesrecht und Öffentlichkeit. Zum Umgang mit Missbrauch in der katholischen Kirche seit den 1930er Jahren“ beschäftigte sich Keywan Klaus Münster rund um die sogenannten Sittlichkeitsprozesse mit den der Kirche zu Grunde liegenden Verfahrensnormen und ihrer Anpassungsmöglichkeiten. Aufgrund des zu dieser Zeit nunmehr schlechten Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, änderte sich die Handlungsnorm des strikten Ausschlusses der Öffentlichkeit. Die „Regeln der Geheimhaltung“ im Umgang mit Fällen von sexualisierter Gewalt wurden zum Schutz des öffentlichen Bildes der Kirche im Rahmen von zeitlich begrenzten Sonderregeln aufgeweicht. Diese gerieten allerdings nach 1945 wieder in Vergessenheit. 

Zu der Frage, in welchem Verhältnis Fälle von sexualisierter Gewalt innerhalb des Verantwortungsbereichs der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu den Kanälen einer multiplen Öffentlichkeit standen, referierte Anette Neff aus Darmstadt. Am regionalen Beispiel stellte sie heraus, dass der grundlegend hierarchieärmere und gleichzeitig höchst komplexe Aufbau der evangelischen Landeskirchen nicht nur das auch von der ForuM-Studie bestätigte Charakteristikum einer „Verantwortungsdiffusion“ förderte, sondern auch die Schwierigkeit, beispielsweise die zivile bzw. die gemeindliche Öffentlichkeit hin zu einer medialen Öffentlichkeit mit größerer Reichweite zu verschieben. Das Wissen um Fälle sexualisierter Gewalt bzw. um sexuellen Missbrauch verblieb überwiegend im „Gerüchtegedächtnis“ oftmals von Frauengruppen der Gemeinden, die aufgrund großer Beschämungsängste andere Öffentlichkeiten mieden. 

Unter dem Titel „Im Dunkeln waren wir lange genug“. Öffentlichkeit(en) und feministischer Aktivismus gegen sexuellen Missbrauch an Kindern in den 1980er und 1990er Jahren“ stellte Ruth Pope den Umgang feministischer Aktivistinnen insbesondere mit der medialen Öffentlichkeit im Konnex von Missbrauchsvorwürfen und ihrer Aufarbeitung dar. Dabei machte sie deutlich, dass die feministischen Aktivistinnen die hohe Reichweite der medialen Öffentlichkeit erkannten und diese Sichtbarkeit strategisch für ihre Anliegen nutzten. Hatten die Aktivistinnen mit dieser öffentlich wirksamen Strategie in den 1980er Jahren eine gesellschaftliche Sensibilisierung für das Thema „sexueller Missbrauch“ erreicht und konnten hierdurch insbesondere Beratungsstellen für Betroffene realisiert werden, verloren sie in den 1990er Jahren die kurzfristig erreichte Diskurshoheit. Zunehmende ebenfalls medial wirksame Kritik unter dem Vorwurf der Übertreibung als „Missbrauch des Missbrauchs“ bedrohte sogar zeitweise die entstandenen Beratungsstellen.

Neben dieser Fachsektion spielte das Thema sexualisierte Gewalt als Machtmissbrauch ebenfalls eine Rolle in der Debatte zu „Schutz vor Machtmissbrauch in der Geschichtswissenschaft – Wege zu einer Fachkultur respektvollen Miteinanders für innovative und kreative Forschung“ an der auch Lutz Raphael als Vorsitzender des VHD teilnahm sowie epochenübergreifend im Kontext von Krieg in der Fachsektion zu „Geschlecht, Macht und Konflikt. Die Geschichte von Militär, Gewalt und Krieg neu denken?!“, die von Isabelle Dealers und Karen Hagemann geleitet wurde.  

Categories: Allgemein

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